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Identifikation und Dialekt

Vor ein paar Wochen habe ich wieder einen neuen Jahrgang in
Zwickau übernommen, dem ich die Stimmbildung näherbringen darf. In der Stadt
mit knapp 100.000 Einwohnern wird ein sehr außergewöhnlicher Studiengang
angeboten, der Studenten aus ganz Deutschland anzieht. Erst seit reichlich zehn
Jahren werden dort Gebärdensprachdolmetscher ausgebildet. Für mich birgt dieser
Berufszweig ein vollkommen neues Klientel. Ich muss zugeben, dass ich mich
vorher nicht mit Gehörlosen beschäftigt habe, geschweige denn mit
Gebärdensprache.

In den ersten Stunden des Unterrichts bekommen die Studenten
meist von mir ein Expertenfeedback, sodass sie ihren Ist-Zustand einschätzen
können. Für die meisten ist das nicht selten der erste Moment, in dem sie sich
überhaupt mit ihrer Stimme und ihrem Sprechen auseinandersetzen. Aufgrund der
Seltenheit des Studienganges bilden die Studenten einen bunten Strauß aus allen
Regionen Deutschlands inklusive deren Dialekten.

Die Frage nach dem Dialekt wurde mir schon das ein oder
andere Mal in meinem Berufsleben gestellt, aber in Zwickau drängte Sie sich
immer wieder in unsere Auswertung. Ist denn ein Dialekt negativ zu werten? Und
wenn ja, muss ich ihn mir abgewöhnen? Bin ich dann überhaupt noch ich?

Zunächst einmal – ein Dialekt ist überhaupt nicht negativ.
Er ist einfach nur wahrnehmbar. Unsere heutige Standardsprache war früher auch
ein Dialekt, der irgendwann einfach als Standard festgelegt wurde und sich
offiziell durchgesetzt hat.

Fakt ist jedoch, dass ein Dialekt immer eine Wirkung bei
unserem Gegenüber erzeugt, je nachdem welche Erfahrung mit diesem Dialekt
gemacht wurde und wie unsere Gesellschaft diesen Dialekt anerkennt und
bewertet. Im Allgemeinen wirkt beispielsweise der sächsische Dialekt etwas
ungebildet und der bayrische oft niedlich und zünftig. Manchmal kann ein
Dialekt auch so stark sein, dass der Inhalt nicht mehr zu verstehen ist.

Letztendlich sage ich immer zu meinen Studenten, dass ich es
ihnen vollkommen freistelle, ob sie das Standarddeutsch lernen wollen oder
nicht. Ich benutze hier ganz bewusst das Verb lernen und spreche nicht davon,
sich den Dialekt abzugewöhnen, denn dieser kann in der Heimat durchaus wichtig
sein. Er verstärkt das Gemeinschaftsgefühl und weckt Vertrauen bei denjenigen,
die ihn teilen. Ziel ist es also nicht, den Dialekt abzugewöhnen, sondern in
bestimmten Situationen auf eine Hochlautung „umschalten“ zu können. Es ist
schließlich so, dass eine korrekte Standardaussprache unsere positive Wirkung
beim Gegenüber verstärkt. Wir wirken kompetenter, souveräner und sind beruflich
vielfältiger einsetzbar.

Nun zu der letzten Frage. Bin ich dann noch ich, wenn ich
plötzlich Standard spreche?

Da ich selbst ein starker Dialektsprecher war, kann ich
dieses Dilemma gut nachvollziehen. In der ersten Phase des Umlernens fühlt man
sich wie ein Fremder. Man hat sich jahrelang mit seinem Sprechen identifiziert
und jetzt soll man plötzlich sprechen, wie die „feinen Leute“. Noch schlimmer,
als die eigene Irritation, kann die der anderen sein. Plötzlich fragen uns
unsere langjährigen Bekannten und Freunde, warum wir auf einmal so vornehm und
bedacht sprechen und was denn bei uns nicht mehr stimme. Das kann dazu führen,
dass wir uns nicht mehr authentisch fühlen und uns sagen „Das bin nicht ich,
das fühlt sich künstlich und ungewohnt an“. Aber was bedeutet denn das „ich
sein“, das „gewohnt sein“? Wir sind das, was wir jeden Tag gewohnt sind zu tun.
Wir sind eine Kette von Angewohnheiten und da wir sie jeden Tag tun, sind sie
uns vertraut. Wir identifizieren uns damit. Ist es dann nicht so, dass man
einfach ein neues Verhalten in seinen Alltag integrieren und es zur Gewohnheit
machen kann? Wir haben viel mehr Fähigkeiten als wir glauben. Neues in den
Alltag zu integrieren bedeutet lediglich etwas Stress, denn unser Organismus ist
von Natur aus sparsam. Neue Prozesse kosten erst einmal Energie und sind
unbequem. Sie sind uns aber nur so lange unbequem, bis wir sie in unseren Alltag
integriert und uns zu Eigen gemacht haben.

Wenn wir uns erfolgreiche Menschen anschauen, dann können
wir beobachten, dass diese ein Stück weit unnormal – im Sinne von besonders –
sind. Sie haben die Fähigkeit, schnell auf neue Situationen zu reagieren und
die nötigen Prozesse in Gang zu setzen, die es braucht, um weiterzuwachsen.
Vera Birkenbihl sagte sehr treffend: „Wir sind mit einem Potenzial auf die Welt
gekommen, dann gingen wir durch einen Prozess, der sich da nennt Erziehung und
dann hat man uns normal gemacht.“.

Einerseits wollen wir normal sein, wir wollen dazu gehören,
Teil einer Gruppe sein. Denn unnormal heißt auch, anders und fremd zu sein und
das macht uns Angst. Aber um erfolgreich – und ich würde sogar so weit gehen,
zu sagen: um glücklich zu sein, sollten wir den Mut haben, anders zu sein und
Dinge anders zu tun, als es die Meisten tun. Auch wenn das bedeutet, dass unser
Umfeld uns plötzlich als unnormal empfindet und uns darauf stößt, dass wir gar
nicht mehr wir sind. Im besten Fall können wir dann sagen: „Ja stimmt, ich habe
mich verbessert und entwickelt“. Denn, was bedeutet eigentlich Entwicklung? Wir
haben uns ent-wickelt – nämlich uns von unseren Fesseln, Verstrickungen und
Grenzen befreit.

Warum ist dann eine Veränderung – egal welcher Art und auch
wenn sie für uns positiv ist – so unbequem für uns und andere? – weil wir
plötzlich mit Neuem konfrontiert sind und noch keine Strategie gefunden haben
damit umzugehen. Und das stresst uns. Veränderungen sind aber notwendig um zu
wachsen. Denn ohne etwas zu verändern bleiben wir immer nur der, der wir schon
sind. Das widerstrebt unserer Natur. Schließlich will alles in unserer Umwelt
wachsen. Pflanzen werden größer, stärker, robuster. Familien wachsen. Und auch
wenn wir körperlich ausgewachsen sind heißt das nicht, dass wir nicht mental
wachsen können.

Oft gratulieren uns die Menschen zum Geburtstag mit den
Worten „Bleib so wie du bist“. Aber ist das wirklich gut? Heißt das dann nicht,
dass wir stehen bleiben und nächstes Jahr genauso weit gekommen sind wie die
Jahre davor, nämlich nicht voran? Wenn ich solche Wünsche bekomme, dann füge
ich leise für mich hinzu: „Ich hoffe nicht.“ Ich hoffe nämlich, ich weiß
nächstes Jahr mehr und habe mich weiter ent-wickelt.

Ein gewisses Maß an Anstrengung ist immer notwendig um zu
wachsen und stärker zu werden. Auch ein Küken kann nicht ohne Kraftanstrengung
aus seinem Ei schlüpfen und in die nächste Phase seines Lebens übergehen.
Genauso brauchen wir manchmal ein Stück Überwindung, Kraft und Ausdauer, bevor
wir wachsen können.

Also überlegen Sie sich das nächste Mal ganz ehrlich, wenn
in Ihnen die Frage auftaucht „Bin das wirklich ich?“ dass dieses andere,
fremde, neue Ich, was Sie mit ein wenig Mühe sein könnten, besser ist als Ihr
altes Ich. Und vielleicht lohnt sich der Stress, das neue Ich in Ihr Leben zu
integrieren.