Stimme und Bauch – Wie gehört das zusammen?
In meiner Unterrichtspraxis stelle ich immer wieder fest, dass
viele Menschen ungern ihren Bauch beobachten lassen oder gar beim
Einatmen „rausstrecken“ wollen. Aber woher kommt das? Warum ist
unser Bauch so eine empfindliche Region an unserem Körper und warum
ist er überhaupt relevant für die Stimme?
Evolutionsbiologisch haben wir uns sehr lange auf vier Beinen
bewegt, bevor wir uns zum aufrechten Gang erhoben haben. Unser Bauch,
mit all seinen lebenswichtigen Organen, war von unserem Rücken in
einer vierbeinigen Position gut geschützt vor Angriffen. Auch Tiere
geben diesen Schutz nicht gern auf. Sie kennen das vielleicht von
Ihrer Katze – sie lässt sich nicht von jedem den Bauch streicheln.
Dazu muss das Tier erst genug Vertrauen aufgebaut haben. Mit dem
aufrechten Gang ging dieser Schutz für den Menschen verloren. Das
Bedürfnis unseren Bauch zu verstecken ist geblieben. Beobachten Sie
einmal einen Menschen, der sich erschreckt. Er krümmt sich leicht
nach vorn, zieht die Schultern hoch und presst die Arme an den
Körper. Keiner würde in diesem Moment seinen verletzbaren Bauch
präsentieren.
Auch der altbekannte Spruch: „Bauch rein, Brust raus!“ hält
sich leider immer noch vehement. In dieser Position soll man
angeblich besonders standhaft und präsent sein. Stellen Sie sich
vor, Sie würden so in einen Ringkampf steigen. Jedes Kind würde Sie
k.o. schlagen, denn in dieser Position fehlt Ihnen in die nötige
Stabilität und Flexibilität, auf Ihr Gegenüber zu reagieren.
So ähnlich verhält es sich beim Sprechen. Die meisten Klienten,
die zu mir kommen, wissen meistens schon, dass eine Hochatmung nicht
von Vorteil für die Stimmgebung ist. Sie sind aber überrascht, wenn
ich Ihnen sage, dass diese falsche Atmung von Ihrer angespannten
Bauchdecke herrührt. Ist diese Muskulatur nämlich angespannt, sind
auch unsere Bauchorgane eingeengt und die Atmung kann nicht tief
genug greifen. Unsere Stimme kann sich also nicht voll entfalten,
weil wir ihr ihren vollen Klangraum vorenthalten. Eine zu flache
Atmung bzw. eine zu starke Brust- oder Schulteratmung sorgt dafür,
dass unser Kehlkopf nach oben rutscht. Dadurch klingt die Stimme eng,
gepresst und klein – dabei ist sie es gar nicht. Unsere Stimme ist
wie eine kleine Stimmgabel. Allein klingt sie so leise, dass sie fast
nicht zu hören ist. Aber stellt man sie auf Holz, auf einen
Resonanzkörper, hört man plötzlich einen Ton. UNSER Resonator ist
unser Körper und zwar nicht nur der Mundraum, der Kopf oder
vielleicht noch die Brust. Nein! Unser ganzer Körper arbeitet bei
der Stimmgebung mit. Und gerade die Körpermitte, die für unsere
Balance und Stabilität zuständig ist, stellt einen entscheidenden
Dreh- und Angelpunkt beim Sprechen dar. Deswegen plädiere ich immer
auch für eine Kräftigung der Bauch- und Rückenmuskulatur parallel
zum Stimmtraining.
Ein weiterer Effekt einer gesunden Bauchatmung ist die Entspannung
der Schulter- und Nackenmuskulatur. Menschen, die viel am
Schreibtisch sitzen, atmen oft zu flach in die Brust und verharren
oft Stunden in einer sehr angespannten Position, mit einem festen
Bauch. Bewusst in den Bauch zu atmen und die Bauchdecke loszulassen
wird Verspannungen in Ihrem Rücken lösen bzw. im besten Falle
vorbeugen. Die gute Nachricht ist also: Ein stimmförderliches
Körperbewusstsein und das Loslassen der Bauchmuskulatur kann man
durch Übung und Selbstbeobachtung durchaus lernen.
Leider ist das „mit dem Loslassen“ nicht so einfach. Gerade
Frauen fühlen sich beim Thema Bauch unter Druck gesetzt. Das gängige
Schönheitsideal setzt auf einen flachen, eingezogenen Bauch. Seinen
Bauch zu entspannen und somit zu zeigen, erfordert ein bisschen Mut.
Aber wenn wir erkennen, wie viel mehr wir aus unserer Stimme und
damit unserer Wirkung machen können, lohnt es sich, „loszulassen“
und ein bisschen mehr „Bauch zu zeigen“.